Ausgerechnet in dieser Nacht funktioniert das WIFI nicht, und so schlafe ich einigermassen unbehelligt dem Morgen entgegen, während 10’000 Kilometer nordöstlich ein lustiges kleines Mädchen namens Mila Sofia das Licht der Welt erblickt.
Welcome to our world, princess Mila Sofia!
Ich muss es irgendwie gespürt haben, denn schon früh am Morgen, das iPad in der Hand, stolpere ich müde und mit halb geschlossenen Augen in den Gang hinaus, wo das WIFI eventuell funktionieren könnte. Ich öffne die Mailbox, und das erste, was mir entgegenblickt, ist das wunderbar friedliche Gesicht meiner ersten Enkelin.
Und so ist das kleine Mädchen DAS Gespräch Nummer eins beim Morgenessen. Es dürfte selten sein, dass ein Neugeborenes von so vielen unterschiedlichen Nationen gefeiert wird. Kanadier, Franzosen, Spanier, Kolumbianer, Amis, Australier … gratulieren mir von allen Seiten, man schüttelt mir die Hand, umarmt mich, klopft mir auf die Schultern.
Dabei habe ich nichts beigetragen, ausser der Vater meiner Tochter zu sein …
Medellín ist eine grossartige Stadt
Es ist von Anfang an ein guter Tag. Mila Sofia eröffnet den Reigen positiver Erlebnisse dieses besonderen Tages in Medellin, und auf diese Weise geht es weiter.
Mit der Metro fahre ich zur Station San Antonio mitten im Stadtzentrum und wow! Innert Sekunden spüre ich, dass diese Stadt etwas Besonderes ist. Genauso wie für Cali im Nu den Daumen nach unten ging, geht er hier nach oben.
Wenn man bedenkt, wie es zu Zeiten Pablo Escobars aussah, muss man sich wundern (by the way – wer sie nicht bereits kennt, es gibt eine sehenswerte Netflix-Serie namens „Narcos“, die das Leben und Sterben des berühmtesten und berüchtigsten Sohnes der Stadt fiktionalisiert – nicht verpassen!).
Eine besondere Energie scheint der Stadt aus allen Poren zu triefen. Das Wetter ist so schön, wie man es sich nur wünschen kann, nicht zu heiss, aber vor allem nicht mehr kalt. Etwas Leichtes liegt in der Luft, etwas Schwebendes, Schwereloses. Es scheint, als hätte die Stadt an diesem Tag ihr schönstes Antlitz aufgesetzt.
Medellín ist die Hauptstadt des Departamento Antioquia in Kolumbien.
Mit mehr als 3,7 Millionen Einwohnern ist es die zweitgrößte Metropolregion Kolumbiens nach der Hauptstadt Bogotá und liegt im Aburrá-Tal, ein Tal des mittleren Bergzugs der Anden im nordwestlichen Kolumbien, auf einer Höhe von 1538 m.
Medellín wird daher auch Capital de la Montaña, Hauptstadt der Berge, genannt. Medellín verfügt als einzige Stadt Kolumbiens über eine Hochbahn (eröffnet 1995), die die Stadt mit ihrer Umgebung verbindet. Die Metro de Medellín hat zwei Linien mit insgesamt 42 km Schienennetz. Die Stadt betreibt auch zwei Seilbahnlinien zu den Armenvierteln Santo Domingo und San Javier sowie die Ayacucho Tram, eine spurgeführte Oberleitungstramlinie nach dem System Translohr. Pro Jahr transportieren die Seilbahnlinien rund 100 Millionen Passagiere.
Pablo Escobar
Berühmt geworden ist der Name Medellín über das berüchtigte Medellin-Kartell, das neben dem Cali-Kartell Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre der größte Kokain-Exporteur weltweit war.
Es wurde unter anderem von Pablo Escobar geführt und konzentrierte seine Aktivitäten von der kolumbianischen Stadt Medellín bis zu den Absatzmärkten in den USA mit dem Schwerpunkt in Miami und Florida. Die Entstehung des Kartells, das eher den Charakter einzelner, nebeneinander agierender illegaler Unternehmen als den einer straff geführten, kriminellen Organisation wie zum Beispiel der sizilianischen Mafia trug, war eng mit der rasant steigenden Nachfrage nach Kokain in den USA Ende der 1970er verbunden.
Von der amerikanischen DEA wurde die Behauptung aufgestellt, dass das organisierte Verbrechen des Medellín-Kartells 80 Prozent des US-Marktes beliefere, nach Darstellung des Time-Magazins sogar 80 Prozent des Welthandels. 1975 exportierte das Land etwa eine Jahresmenge von 4.000 Kilogramm in die USA.
Die Transportrouten von Medellín über Norman’s Cay nach Miami/FL wurden seit 1978 von Carlos Lehder kontinuierlich ausgebaut. Die Blütezeit des Medellin-Kartells stellten die 1980er Jahre dar. Nach dem Tod von Pablo Escobar und dem Niedergang des Kartells, änderten sich auch die Transportwege. Von Medellín, und Cali wurde das Kokain über La Ceiba in Honduras nach Tampico oder nach Brownsville in Texas verschifft. Ende der 1980er Jahre passierten 80 % des Kokains, das in die USA verkauft wurde, die mexikanische Grenze und begründete somit den Aufstieg mexikanischer Kartelle, wie zum Beispiel dem Sinaloa-Kartell.
Aber eigentlich will ich das alles gar nicht wissen, zuviel Blut und Tränen haften an diesen unseligen Erinnerungen. Ob die Stadt ihre unrühmliche Vergangenheit definitiv hinter sich gelassen hat, wird sich zeigen. Ich bin zuversichtlich, denn das, was an positiven Vibes in der Luft liegt, ist schon mal ein Anfang.
Lebenslust pur
Soviel zur bösen Vergangenheit der Stadt, von der man an diesem wunderbaren Tag nichts zu spüren scheint. Ich lasse mich tragen, durch die Gassen, die in alle Richtungen führen, zwischen den dichtgedrängten Verkaufsständen hindurch, die seltsamerweise fast alle nur Mützen verkaufen. Keine Ahnung, warum ausgerechnet Medellín eine derartige Vorliebe für farbige Mützen besitzt.
Restaurants in allen Farben laden ein zum Drink, natürlich erklingt aus allen Türen und Fenstern Musik, Salsa wie in Cali, aber entspannter, nicht so übergriffig.
Obwohl die Stadt sich ja vor allem einen Namen als Drogennest gemacht hat, ist sie viel mehr. Ich nehme mir den Stadtplan vor, folge anschliessend den Strassen, passiere alte Gemäuer und Kirchen und Kathedralen (wen wundert’s) und bin einmal mehr beeindruckt von der reichhaltigen Vergangenheit, die in erster Linie auf die Hinterlassenschaften der katholischen Kirche zurückgehen.
Eine Protestdemo
Und dann, wie aus dem Nichts, vielstimmiger Lärm, Musikinstrumente, Lautsprecher, alles, was zu einer gehörigen Demo dazugehört.
Da ich nicht die geringste Ahnung habe, erkundige ich mich vorsichtig bei einer älteren Dame, sie lacht, als erriete sie meine Gedanken, und klärt mich auf. An diesem Samstag finden überall im Land Demonstrationen gegen die Regierung Santos statt und gegen den vom Volk knapp abgelehnten Friedenspakt zwischen Regierung und FARC, der dann aber in etwas abgeschwächter Form trotzdem umgesetzt wurde. Dies scheint immer noch grossen Ärger hervorzurufen; allerdings läuft alles sehr friedfertig ab und gleicht eher einer Art Volksfest.
Alles bleibt friedlich, die Polizei hält sich zurück, man feiert den Tag, der sich allerdings langsam mit dunklen Wolken verdüstert.
Die Comuna 13 – das ehemalige Herz der Finsternis
Allerdings muss ich Punkt halb zwei zurück im Hotel sein, denn dann beginnt die sogenannte Graffiti-Tour, die in eines der berüchtigsten Viertel der Stadt führen soll, die Comuna 13, also dorthin, wo vor wenigen Jahren noch Mord und Totschlag alltäglich war.
Wir sind ein farbiges Trüppchen, altersmässig mit grossem Vorsprung von mir angeführt. Zwei junge Burschen, Einheimische, führen das Unternehmen als Führer an. Wir folgen ihnen mit leicht gemischten Gefühlen, denn wie gesagt, auf diesen Strassen, Gassen, Treppen ist das Blut unzähliger Opfer versickert.
So betreten wir also das Herz der Finsternis, steigen die Treppen hinauf oder lassen uns durch Rolltreppen in die höheren Gefilde führen. In diesen Katakomben und Labyrinthen, in diesen verschachtelten Hütten und Häusern, lebten zehntausende Menschen, darunter Familien, Kinder, alte Leute, umgeben vom schlimmsten Abschaum der Menschheitsgeschichte.
Hier bekämpften sich die Narcos mit den Ultras und der Polizei und der Armee und der FARC, bis vor einigen Jahren die Regierung den Nothebel zog und in einer Nacht- und Nebelübung alles dem Erdboden gleichmachte. Viele hundert Menschen, die meisten wahrscheinlich unschuldige Opfer, kamen bei dieser Übung ums Leben.
Alles, was wir bisher erzählt haben, ist Vergangenheit, behaupten unsere ziemlich schlecht Englisch sprechenden Guides. Jetzt, gut sieben Jahre später, ist alles anders. Keine Drogen mehr, keine Morde, alles geordnet, die Lebensfreude ist zurück, die Kinder spielen nun wieder ohne Gefahr.
Ein neues Image
Dass hier vor nicht allzu langer Zeit Mord und Totschlag herrschte, wo jeder Schritt aus dem Haus den Tod bedeuten konnte, ist nicht vorstellbar. Und trotzdem geschichtlich relevant. Die beiden Guides versuchen ihr Bestes, uns Fremden die damalige Zeit mit allen unvorstellbaren Tragödien nahezubringen, doch sie schwenken schnell (wir sind trotz der Faszination dankbar) zur Gegenwart zurück.
Die Behörden haben nach dem Ende des Drogenkartells alles versucht, der Stadt und insbesondere diesem notorischen Viertel eine neue Zukunft, ein neues Image zu verpassen. Es ist ihnen ganz offensichtlich gelungen. Anstatt Drogen und Kriminalität hat sich nun eine Art Alltag eingefunden. Die Leute sind freundlich, nur manchmal ein schräger Blick auf die jungen und naiven Besucher, die aus ihren behüteten Ländern kommen und sich nun auf einer Sightseeing Tour an der bösen Vergangenheit des Viertels aufreizen.
Hat das Gute im Menschen gesiegt?
Nicht dass ich als alter Zyniker nicht auch an das Gute im Menschen glauben könnte und Verhaltensänderungen durchaus Glauben schenken kann, aber in diesem Fall bin ich skeptisch.
Ich könnte mir eher vorstellen, dass das Ganze nun etwas heimlicher geschieht, sozusagen unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze. Die allgegenwärtige Korruption ist doch immer noch vorhanden, die verschwindet nicht einfach von einem Tag zum anderen, vor allem nicht durch ein Dekret der Regierung (die ja ebenfalls Teil des Spiels ist).
Na ja, wie auch immer, beim Gang durch die Gassen stellt sich das merkwürdige und überraschende Gefühl ein, dass es sich hier tatsächlich gut leben lässt. Kinder spielen in den engen Gassen, die verschachtelten Häuser bieten Lebensraum für die unterschiedlichsten Bewohner jeden Alters, man hört Stimmen, Lachen, Musik. Alte Männer sitzen vor ihren Häusern, Frauen hängen Wäsche auf, überall klingt Salsa aus den Häusern …
Täuscht der Schein tatsächlich? Oder doch nicht?
Bei der Betrachtung der Umgebung mit den bemalten Häusern in rot, orange, grün, blau, braun, verschachtelt übereinander gebaut, an den steilen Abhang geklammert, denke ich zum ersten Mal – und bin selbst am meisten verblüfft dabei – dass ich hier leben könnte.
Das hat aber nicht nur mit den Häusern zu tun, sondern mit dem, was das Viertel zu einem touristischen Hotspot gemacht hat.
Die Graffitis
Ob es ein geplanter Schachzug der Behörden war oder ein Zufall mitgewirkt hat – das Hauptinteresse der Besucher gilt nicht nur der blutrünstigen Vergangenheit der Comuna 13, sondern in erster Linie den besonderen Highlights des Viertels.
Es sind nicht die ersten umwerfenden Graffitis in Südamerika, man erinnere sich an Buenos Aires, an Cochabamba und andere. Aber was hier an allen Mauern dargeboten wird, ist reine Kunst. Die Kunst der Graffitis.
Wir werden an all den Gemälden vorbeigeführt, wir staunen, möchten verweilen, die Ausstrahlung wirken lassen. Aber die Zeit drängt, man wird weitergehetzt, von einem Bild zum anderen, ist erschlagen und kann nicht aufhören, zu staunen, zu bewundern.