Eigentlich ein Wunder, dass niemand um sechs „Tagwache“ schreit und man sich nach einer halben Minute vor dem Bett hinstellen muss.
Aber das Erwachen im 4-er Zimmer, das zwar tatsächlich entfernt ans Militär erinnert, ist wesentlich angenehmer. Anstelle des brüllenden Feldweibels murmelt Fridli leise „halb Acht“ und so beginnt der erste gemeinsame Tag.
Das gestern bereits erwähnte Wöschhüsli (berndeutscher Diminutiv für Waschhaus) dient jetzt als Frühstücksraum. Und tatsächlich, alles steht bereit, die Kaffeemaschine ist in Betrieb, Saft, Brot, Butter, alles da. Wir geniessen, während sich draussen der Tag bereitmacht.
Der bedeckte Himmel scheint aber eher auf eine missmutige Laune hinzudeuten.
Natürlich sind wir wieder mal spät dran
Wen wundert’s – die vergangenen zwanzig und mehr Jahre haben gezeigt, dass wir beim Abmarsch prinzipiell immer die letzten sind und kaum je vor 09.00 in die Gänge kommen. Der heutige Tag ist keine Ausnahme, kommt dazu, dass nach dem erneuten Marsch zum Bahnhof noch verschiedene Besorgungen zu erledigen sind.
Es dauert also nochmals eine halbe Stunde, bis wir kurz vor zehn tatsächlich losmarschieren, die geliebten Panorama Wegweiser fest im Auge.
Der Weg führt uns via Schützenfahrbrügg über die Aare und anschliessend den Belpberg hoch.
Der Führer schwafelt was von einer riesigen Insel inmitten der Landschaft, Insel ja, aber wie wir ziemlich schnell herausfinden werden, handelt es sich eher einen saublöden unnötigen Hügel in der Landschaft, den man besser irgendwo anders hätte hinstellen sollen.
Nichts Besonderes
Die heutige Etappe ist von eher einfacher Topologie (vom Belpberg abgesehen), aber entfernungsmässig eine ziemliche Herausforderung für die beiden Rookies. Im Gegensatz zu mir haben sie nicht bereits ein paar hundert Kilometer in den Beinen, was also zum einen oder anderen Keuchen oder Fluchen führen dürfte.
Es könnte allerdings auch sein, dass ich derjenige bin, der keucht und flucht, während die beiden Frischlinge ausgeruht den Berg hochhetzen.
Und da auch heute eine Variante angesagt ist, müssen wir uns noch auf ein paar Kilometer mehr einstellen. Und was die Gesamtzeit anbetrifft – ich bin einigermassen sicher, dass die tatsächlich marschierte Zeit bestenfalls gleich lang sein wird wie die Pausen.
Wenn also die angegebene Zeit 6 Stunden beträgt, dürfte die zu erwartende mindestens 40-50% höher sein.
Plan: Länge: 19 km, Aufstieg | Abstieg: 950 m | 560 m, Wanderzeit: 6 h 00 min
Ergebnis: Länge: 24 km, Aufstieg | Abstieg: 950 m | 660 m, Wanderzeit: 9 h 20 min
Aber der Führer schwärmt, und wir möchten ihm gerne glauben.
Vom weiten Aaretal über den Belpberg, der wie eine riesige Insel in der Landschaft steht, ins Gemüseland Gürbetal und auf den Längenberg zu den eindrücklichen Ruinen des Klosters Rüeggisberg. Immer wieder grossartige Aussicht auf die Berner Alpen.
Dieser elende Belpberg
Der Belpberg wird nach dem heutigen Tag nicht zu meinen Lieblingshügeln zählen. Kurz nach der Aare beginnt eine Steigung, die es in sich hat (bis 23% erklärt meine Pulsuhr), und noch schlimmer, die Steigung wird immer wieder durch Treppen überwunden.
Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es Treppen auf Wanderwegen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass mir die verfllxten Dinger begegnet sind, aber heute haben sie definitiv noch einen Zahn zugelegt.
Apropos Treppen: da fällt mir doch gleich der berühmt-berüchtigte Niesen Treppenlauf ein.
Die Niesen-Treppe ist die längste Treppe der Welt mit 11’674 Stufen. Die Höhendifferenz vom Start bis zum Ziel auf der Gipfelplattform beträgt 1’669 Meter. Merkwürdigerweise (aber wahrscheinlich ist es gar nicht so merkwürdig) melden sich trotzdem Teilnehmer aus der halben Welt an.
Verschiedene Filme auf Youtube zeigen keuchende Teilnehmer, die auf den letzten Energiereserven scheinen, während die besten Läufer bereits leichtfüssig dem Ziel entgegen sprinten.
Treppen oder besser gesagt ihre Bewältigung scheint für gewisse seltsame Leute eine unüberwindbare Anziehungskraft zu besitzen.
Während ich also keuchend und leicht gedemütigt hinter den topfitten Jungspunden her eile, sind die beiden weit voraus. Immerhin kann ich mich mit meinem hohen Alter herausreden, was mich aber nicht wirklich zu besänftigen vermag.
Eins ist hingegen sicher – der Niesen Treppenlauf ist definitiv nichts für mich (und wäre es auch vor 50 Jahren nicht gewesen).
Das Berner Dreigestirn
Zugegeben, ohne Treppen und mit einem Himmel, der etwas blauer wäre als in diesem öden Grau, wäre der Belpberg tatsächlich eine grossartige Insel in der Landschaft. Sobald man den breiten Hügelrücken erreicht, erkennt man das Grossartige der Landschaft. Im Süden strecken Eiger, Mönch und Jungfrau, des Schweizers liebste Gipfel, ihre Spitzen zum Himmel.
Immerhin ist nun für den Moment das Gröbste hinter uns, man atmet durch, lässt den Blick über die gelben Wiesen schweifen, die Berge im Dunst, die sich im Wind wiegenden Weizenfelder. Jetzt beginnt der positivere Abschnitt der heutigen Route. So hoffe ich wenigstens. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Alte Geschichten
Wenn man sich so lange kennt (ein Leben lang) und so viele gemeinsame Abenteuer erlebt hat, sind die Erinnerungen daran das, was uns jeweils bei den Pausen oder am Abend beim wohlverdienten Bier die Zeit vertreibt. Für alle Aussenstehenden, die nicht dabei waren, eher ein zweifelhaftes Vergnügen.
Die Erzählungen verändern sich natürlich, werden im Verlauf der Jahre lustiger, spannender, interessanter als sie tatsächlich waren. Aber wie wir wissen, ist die Erinnerung eine zweifelhafte Sache, sie verschleiert den Blick, etwas, was in der Realität grau war, wird rosarot. Ist aber vollkommen egal, solange wir uns in den alten unvergessenen Geschichten wohlfühlen, ist alles in Ordnung.
Bei unserer ersten Pause (nicht die letzte, wie wir später erkennen müssen) sind sie bereits in alter Pracht zurück, und wir lachen zum hundertsten Mal über den gleichen Blödsinn, die gleichen alten, ewig gleichen Episoden. Sie gehören zu uns, sie sind ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Und das ist gut so.
Doch dann geht es weiter, auf der anderen Seite den Belpberg hinunter – what goes up, must come down – und wieder entlang Weizenfeldern und Wasserfällen (nicht gerade Niagara, aber fast), und, wer hätte es gedacht, da sind auch meine geliebten Treppen wieder.
Keuchende Biker
Wie gesagt, Pausen sind ein häufig wiederkehrendes Phänomen, schliesslich sind wir nicht mehr die jüngsten und brauchen Abwechslung.
Und so sitzen wir nicht viel später schon wieder beim Znüni, ein ziemlich ruppiger Abhang vor uns. Der Weg führt sozusagen senkrecht hinunter, nicht mal für Fussgänger leicht zu bewältigen, geschweige denn für Biker auf dem Weg hangaufwärts.
Deswegen bedeutet es eine besondere Freude und Abwechslung, wenn ausgerechnet jetzt, da wir es uns auf einer Bank gemütlich gemacht haben, eine Dame mit Mountainbike heftig keuchend und schnaufend den steilen Hang empor gekrochen kommt. Wir können ein boshaftes Grinsen nicht unterdrücken.
„Ziemlich steil hier, nicht wahr? … Wir dachten bisher, dass Mountainbikes gefahren und nicht gestossen werden.“
„Ja schon, pfff pfff, aber pfff pfff nicht immer pfff.“
Alles gut, die Dame lacht, wir auch, und so lassen sich alle Widerwärtigkeiten dieser Welt mit einem blöden Spruch und einem gutmütigen Grinsen aus der Welt schaffen.
Der Tag der langen Pausen
Ich schäme mich fast ein bisschen, zugeben zu müssen, dass es heute zwar auch ein wenig um prächtige Wiesen und Hügel und blöde Treppen geht, aber eigentlich vor allem um Pausen.
Wir erreichen an mehreren hübschen Weilern vorbei schliesslich doch noch den Talboden im Gürbetal, atmen tief durch nach der erfolgreichen Überquerung des Belpberges und erreichen Toffen, ein Dorf, das uns bis anhin vollkommen unbekannt war.
Ist aber egal, Hauptsache es gibt ein Restaurant mit Garten, in dem wir endlich wieder mal eine wohlverdiente Kaffeepause einlegen können. Die Annahme, dass die zusammengezählten Pausen möglicherweise länger dauern als die gesamte Wanderzeit, scheint langsam aber sicher Wirklichkeit zu werden.
Das ist allerdings nicht das erste Mal auf unseren gemeinsamen Wanderungen. In der Konsequenz sind wir natürlich auch meistens die letzten, die am Abend am Zielort ankommen. Die anderen Wanderer sind bereits beim Nachtessen, die grimmigen und spöttischen Blicke sprechen Bände.
Aber wenn das so weitergeht, kommen wir zwar ausgeruht, aber bei tiefer Nacht an unserem Ziel in Riggisberg an.
Mit ernsthaften Absichten zur Besserung machen wir uns auf den Weg und hoffen, jeder Versuchung widerstehen zu können. Bis in einem kleinen, ziemlich verlassen scheinenden Weiler eine Kapelle auftaucht, die uns zuzurufen scheint: „Kommt her, dies ist ein wunderbarer Ort, um eine Pause einzulegen.“
Den Rest kann man sich vorstellen.
Der Gasthof Sternen
Natürlich ist es nicht so, dass wir nicht vorwärtskommen, nur nicht so schnell, wie es nötig wäre.
Aber es geht manchmal zügig vorwärts, manchmal auch nicht, schliesslich gibt es immer wieder botanische Fragen zu klären, beispielsweise ob meine Behauptung, dass es sich bei diesen Pflanzen auf dem Feld um Roggen handelt. Waltis App sei Dank, wissen wir bald Bescheid, natürlich ist es nicht Roggen sondern ganz einfach Weizen. Dabei dachte ich doch tatsächlich, bezüglich Getreideerkennung ein Ass zu sein. Wieder eine zerstörte Überzeugung.
Eigentlich, wie die Uhr zeigt, sind wir schon ziemlich lange unterwegs, wobei „unterwegs“ ein klassischer Euphemismus ist. Aber was soll’s, wir fühlen uns prächtig, es könnte endlos so weitergehen. Manchmal geht es aufwärts, dann wieder den Berg oder Hügel hinunter, doch die Landschaft behält ihre Schönheit, auch wenn der bedeckte Himmel nicht recht mitmachen will bei der Präsentation.
Aber dann erreichen wir, ganz unerwartet, eine wunderbare Gartenwirtschaft, und trotz der fortgeschrittenen Zeit gönnen wir uns wieder mal eine Pause.
Der Gasthof Sternen scheint eine besondere Geschichte zu haben. Der Inhaber, als Migrant irgendwann in der Schweiz gelandet, übernahm vor einiger Zeit diesen Gasthof und brachte ihn zum Erblühen. Heute ist das Restaurant ein Touristen- und Wandertreffpunkt. Die Aussicht in die umliegenden Landschaften bietet uns langsam etwas müden Wanderern den letzten notwendigen Anstoss, um die letzten Kilometer bis Riggisberg zu schaffen.
Und endlich Riggisberg – und ein Schloss
Der Weg nach Riggisberg scheint endlos zu sein, ein Wanderweg ist nicht mehr vorhanden, also sind wir gezwungen, auf der Strasse zu gehen. Immerhin geht’s abwärts, die ersten Gebäude tauchen auf, doch das Dorf ist gross und sehr weitläufig.
Es gibt sogar ein Spital, eine Polizeistelle und zahlreiche Restaurants, die hoffentlich heute Abend für drei müde Wanderer geöffnet sind.
Es muss natürlich so sein, dass zum Abschluss des heutigen Tages nochmals ein Aufstieg zum Schloss absolviert werden muss, wen wundert’s, natürlich über eine Treppe. Und dann sind wir endlich da, es gilt nur noch, den Eingang in das richtige Gebäude zu finden.
Der Zutritt allerdings muss, wir befinden uns in digitalen Zeiten, via Code geschafft werden. Alte Schlösser sind offenbar bezüglich Digitalisierung erheblich weiter als unser Gesundheitssystem.
Auf jeden Fall empfinden wir uns schon bald als kleine Schlossherren, das Zimmer ist riesig, das Badezimmer ebenso.
Über eine Fehlleistung meinerseits bezüglich Duschen soll der Mantel des Schweigens gelegt werden. Es handelt sich um eine weitere Episode, über die bei zukünftigen Wanderungen herzlich gelacht werden darf.
Auf jeden Fall darf ich der Leserschaft mitteilen, dass das Alter massive Fortschritte macht.
Und tatsächlich, wir finden im Dorf auf Anhieb ein Gartenrestaurant, das alles bietet, was das Herz nach einem solchen Tag begehrt. Vor allem ein oder zwei Biere …
Song zum Thema: Tom Waits – All the World is green
Und hier geht der Trip weiter … nach Guggisberg