Manchmal möchte man gerne ins Gehirn eines Fremden eindringen, um zu sehen, wie er tickt und was ihn oder sie antreibt.
Ich spreche jetzt nicht über Putins Gehirn, desses psychopathische Dunkelheit würde vermutlich erschrecken, nein, ich verweise auf die Planer des Trans Swiss Trails. Warum haben sie gegen den Schluss die mit Abstand längste und anstrengenste Etappe festgelegt? Eine Art practical Joke, den niemand versteht?
Anyway, es sind über acht Stunden nach dem Plan, was für uns wohl eher zehn oder elf Stunden bedeuten würde. Aber wir sind ja in der Zwischenzeit in Top-Verfassung, es könnte also klappen. Und wenn nicht, nehmen wir Plan B aus der Schublade.
Sogar der Travelguide schwafelt was von steilem Aufstieg, die Länge der Etappe verschweigt er allerdings tunlichst.
Steiler Aufstieg ins Val d’Isone mit Blick auf den Piano di Magadino. Vom See bei Gola di Lago blieb nur ein Sumpf übrig. Weiter durch ein Meer von Farn im lichten Birkenwald Richtung Bigorio. Das Franziskanerkloster Santa Maria: ein Adlerhorst über Tesserete.
Länge 24 km; Aufstieg | Abstieg 1400 m | 1100 m; Wanderzeit 8 h 15 min
Ein letzter Blick zurück
Ausgerechnet an diesem anstrengenden Tag scheint uns das Wetter seine Gunst zu versagen. Der Himmel schaut grau aus, irgendwie beleidigt (so kommt er uns vor), mit wenig einladenden Schlieren am Firmament, passt aber perfekt zu den düsteren Türmen der Burg.
Mit Ausnahme einiger Umsteigeaktionen am Bahnhof habe ich die Stadt bisher erfolgreich gemieden, was die Prioritätensetzung bezüglich Reiseziele erheblich in Frage stellt. Auch mit grauem Gewölbe macht die Stadt einen sehr einladenen Anblick, es gäbe offenbar viel zu sehen und zu entdecken, meint der Travelguide.
En Abstecher zu den historischen Burgen würde sich lohnen, heisst es dort. Schliesslich handle es sich hier um ein veritables UNESCO Weltkulturerbe, und seine Wehranlagen gehörten zu den bedeutendsten Zeugen der mittelalterlichen Befestigungsbaukunst im Alpenraum.
Upps, alles nicht gewusst, dabei war Bellinzona bereits zu Zeiten der Römer, die hier erstmals im 1. Jh. ein Kastell errichteten, wegen seiner Lage strategisch wichtig, allerdings immer wieder Zankapfel zwischen den Mailänder Herzögen und den Eidgenossen, wobei sich letztere die Stadt 1516 einverleiben konnten.
Also, mit etwas schlechtem Gewissen doch noch etwas dazugelernt.
Ein endloser Aufstieg
Es dauert eine ganze Weile, bis man Bellinzona durchquert hat, immer den steilen Hügel vor Augen, der uns die nächsten Stunden versauen will. Nach dem Start beim Hotel geht’s erstmal Richtung Ticino, wo uns dann Schotterwege und teils asphaltierte Strassen dem Flusslauf entlang nach Giubiasco bringen.
Schliesslich aber stehen wir vor der Tafel „Cima di Dentro“ 2 Std. 35 Minuten. Sieht auf den ersten Blick gar nicht so schlimm aus.
Bei einem grossen Spielplatz verlässt man also die Zivilisation und steigt steil Richtung Cima di Dentro auf. Steil? Sowas liest man nicht gerne, also skeptisch, aber frohgemut wie immer, machen wir uns an den Aufstieg.
Und der hat es tatsächlich in sich. Denn es geht nun bis zu dieser Cima ausschliesslich aufwärts, am Anfang teuflisch steil, bis man an ein paar Rustici vorbei den höchsten Punkt etwas über 1000 m.ü.M. erreicht.
Bis dahin sind unsere Gespräche längst verstummt, Keuchen und Schwitzen und fluchen, zumindest, was mich betrifft, denn meine beiden Kumpels sind längst entflohen. Weiter oben, viel weiter oben, sehe ich die beiden Gestalten, auch nicht mehr so schnell wie üblich.
Der Travelguide macht darauf aufmerksam, dass man auf dem Cima di Dentro Zeuge von Militärübungen werden könnte. Granaten- und Sturmgewehrlärm seien hier üblich. Das Dorf Isone, hinter Cima die Dentro gelegen, ist bekannt für die Ausbildung der Grenadiere.
Grenadiere – ausgerechnet!
Wenn ich auf etwas verzichten kann, dann auf alles, was auch nur im Entferntesten mit der Armee zu tun hat (zugegeben: der Krieg in der Ukraine hat verschiedene felsenfeste Überzeugungen zum Einsturz gebracht; aber lassen wir das für heute).
Immerhin geht es nun abwärts, Schweiss und Keuchen haben für heute ein Ende (ich befürchte allerdings, dass die morgige Etappe noch mehr davon bringen wird, denn ich habe zwei Etappen zusammengelegt; tja, die Hybris, auf gut deutsch die Selbstüberschätzung, unsere alte Freundin, schon wieder schlägt sie zu, aber das ist ja nichts Neues unter der Sonne).
Plan B – für die Alten und die Müden
Eigentlich war Plan B von Anfang an Plan A.
Nichts und niemand wird uns dazu bringen, über zehn Stunden zu wandern, wenn es eine geniale Alternative gibt. Sie nennt sich Bus und Zug, verhilft müden Wanderern zu bequemen Sitzplätzen und einer exzellenten Aussicht auf das, was wir zu Fuss hätten machen müssen.
Und so warten wir in Isone – ohne den Lärm von Granaten und Sturmgewehren – auf den Bus, steigen zweimal um und erreichen unser Tagesziel Tesserete beinahe ausgeruht. Und schon fragen wir uns, was uns dazu gebracht hat, auf das letzte Teilstück zu verzichten. Natürlich ist das komplett geflunkert, aber hätte doch sein können.
Der Vollständigkeit halber hier doch noch was der Travelguide über das von uns schmählich links liegengelassene Teilstück zu sagen hat:
Über herrliche Pfade, durch verzauberte Birkenwälder und mit Sicht auf die umliegenden Gipfel wird Condra erreicht. Es folgen der Abstieg und die letzte Wanderstunde.
Rund 200 Höhenmeter führen über gepflasterte Wege und entlang der im Tessin typischen Mauern. Den verwinkelten Dorfkern von Bigorio durchquert, folgt das letzte Stück nach Tesserete, wiederum zusammen mit der Via Gottardo. Etwas weiter unter der Pfarrkirche San Stefano, Hauptsehenswürdigkeit von Tesserete, endet nach etwa acht Stunden die abwechslungsreiche, konditionell anspruchsvolle Wanderung.
Na ja, vielleicht ein anderes Mal – oder dann spätestens im nächsten Leben …
Passender Song: James Brown – Cold Sweat
Und hier geht der Trail weiter … nach Morcote, langsam dem Ende zu