Dieses Geräusch kenne ich doch – das Klatschen am Fenster, das Prasseln auf den Dächern, das Trommeln auf dem Asphalt. Es ist kurz nach Mitternacht, und es regnet. Ausserdem ist es kalt geworden, durch das offene Fenster dringt ein frostiger Hauch, zum ersten Mal seit langem bin ich einer warmen Decke dankbar.
Wunderbare Aussichten für einen ziemlich anstrengenden Wandertag in Richtung Süden, nach Les Paccots. Nichts Neues für den Wanderer.
Der Wanderführer formuliert es so:
Den mächtigen Moléson vor Augen und das Städtchen Gruyères im Rücken zur Mittelstation Plan Francey aufsteigen, der Nordwestflanke des Moléson entlang wandern und ins waldreiche Voralpenland von Les Paccots absteigen.
Länge: 16 km, Aufstieg | Abstieg: 950 m | 600 m, Wanderzeit: 5 h 00 min
Für mich ergibt sich allerdings noch ein zusätzlicher Abschnitt von Broc nach Gruyères, aber was soll’s, Hauptsache vorwärts.
The Rain, the Park and other Things
Erinnert sich jemand an den wunderbaren 60-Jahre Song der Cowsills? Wenn ich mich recht erinnere, war es das Werk eines vielköpfigen Familienclans, wie es sie in den USA zahlreich gab und gibt. Nun, für alle Vergesslichen, hier der Link: The Rain, the Park and other Things.
Auf jeden Fall erinnert mich der traurige Blick durch den verregneten Morgen an das Lied (und andere Regenlieder, nicht zu vergessen Rain von den Beatles, nochmals eine Klasse besser). Denn es regnet nicht nur, es schüttet. Das alles kommt mir sehr bekannt vor.
Wie auch immer, ich werfe wieder mal meine gesamten Regenklamotten über, verabschiede mich vom netten Hotelpersonal und stürze mich hinaus in den Regen. Broc sieht im morgentlichen Dunst verlassen aus, wenige Autos preschen vorbei, werfen die Gischt nach allen Seiten. Eine einzelne Person kauert sich unter ihren Schirm und wirft mir einen mitleidigen Blick zu.
In der Ferne grüsst Gruyères auf dem Hügel, das erste Tagesziel, doch zuerst gilt es, dem Wanderweg einem kleinen Bach entlang zu nehmen. Der Pfad ist an einigen Stellen kaum begehbar, grosse Pfützen verwehren den Durchgang. Von den Bäumen tropft das Wasser, Dunst steigt aus den durchnässten Wiesen, ein optimaler Beginn der heutigen Etappe.
Gruyères – ein Käse Hotspot
Wie könnte es anders sein – nach einer halben Stunde, ich habe noch nicht mal den halben Weg bis Gruyères geschafft, entflieht das schlechte Wetter irgendwohin, wo es der Teufel holen soll, und der Himmel taut in milchigem Blau auf. Wäre ich eine halbe Stunde später aufgebrochen, wäre ich trocken geblieben. Well, Shit happens …
Gruyères liegt auf einem malerischen Hügel, das Schloss grüsst mit spitzen Türmchen von weitem. Man überquert den Fluss durch eine gedeckte Brücke (Le Pont qui branle) und macht sich kurz darauf bereit für den Aufstieg hinauf zum Dorf, natürlich auf heissgeliebten Treppenstufen.
Gruyères (oder Greyerz auf deutsch) ist ein bekannter mittelalterlicher Touristenort, allerdings vor allem bekannt geworden durch den gleichnamigen Käse, dessen Werbetafeln im Winter die Pisten entlang sämtlicher Langlauf- und Biathlon Wettbewerbe zupflastern. Aber das Dorf ist tatsächlich einen Besuch wert, auch wenn der Regen einen irgendwie tristen Eindruck hinterlassen hat.
Ich sitze ziemlich allein vor einem Restaurant, umgeben von nassen Tischen und Stühlen, und nippe an einem Kaffee, während rings um mich herum absolut nichts passiert, ausser ein paar Last- und Lieferwagen, die irgendwas aus- oder einladen. Oder sind das ein paar ausländische Touristen, die ziemlich verloren vor den Häusern stehen und sich wohl fragen, was sie hier machen?
Neben dem Schloss, das allerlei kulturelle Aktivitäten anbietet und ausserdem eine bedeutende Sammlung von was auch immer besitzen soll, bietet das kleine Städtchen vor allem einen Blick auf die Art und Weise, wie vor hunderten von Jahren gebaut und gewohnt wurde.
Erinnerung an ALIEN
Wenn ich etwas mehr Zeit hätte und nicht eine anstrengende Route vor mir hätte, würde ich das H.R. Giger Museum in Gruyères besuchen.
Ich kann mich nur allzu gut an ALIEN von Ridley Scott erinnern, irgendwann gegen Ende der 70-Jahre, damals noch im grössten Kino in Zürich, dem Apollo. Der Saal war proppenvoll, nach einer halben Stunde mucksmäuschenstill, während der Horror in Form eines Monstrums langsam die Nerven zu strapazieren begann.
Die ultimative Horrorshow – ein begrenzter Raum in einem riesigen Raumschiff, dazu dunkel, feucht, mit vielen düsteren Nischen, und irgendwo ein unappetitlicher Alien, der von Stunde zu Stunde grösser und gefährlicher wurde, und dem die gesamte Besatzung des Raumschiffs Nostromo zu Opfer fiel. Ausser Ripley, gespielt von Sigourney Weaver, die als die erste Actionheldin in die Filmgeschichte einging.
Aber das Monstrum, das fremdartige Wesen, geschaffen von Hansruedi Giger, war stilbildend für viele der nachfolgenden Horror- oder SF-Filme. Nicht überraschend, dass er dafür den Oskar erhielt.
Hier ein Ausschnitt aus dem Film (nicht für zarte Gemüter):
Der Weg nach Süden, dem Moléson entgegen
Kurz nach Gruyères beginnt der Aufstieg, anfänglich durch einen Wald. Ein paar Männer stehen diskutierend neben dem völlig zerstörten Wrack eines Pickups. Offenbar ein Opfer des vergangenen Gewittersturms, der nicht nur Bäume und Gebäude in Mitleidenschaft gezogen hat, sondern auch Autos, die zur falschen Zeit am falschen Ort gestanden haben und durch herabstürzende Bäume zerquetscht wurden.
Einmal mehr zeigt uns die Natur, wer hier die Macht im Staate hat.
Dann aber verlässt der Weg den Wald und beginnt sanft zu steigen. Das Tal bleibt zurück, die Abhänge sind weniger schroff als in den vergangenen Tagen, ich fühle mich sehr wohl, obwohl wieder mal weit und breit keine einzige Seele, ausser den obligaten Kühen, zu sehen ist.
Doch in der Ferne, noch verhüllt von Nebel und Wolken, zeigt sich der Moléson, der Hausberg der Freiburger, ein markanter Kalksteinkoloss. Er zeigt mir die Richtung an, an ihm vorbei wird der Weg nach Süden gehen.
Immer wieder Kühe, meine ständigen Begleiter seit Rorschach; werden sie in fünfzig Jahren auch noch so zahlreich auf den Wiesen weiden, oder hat sie der Klimawandel endgültig vertrieben? Einerseits eine Notwendigkeit, denn die ewigen Furzer sind zumindest für einen Teil des CO2 Ausstosses verantwortlich, andererseits ein schmerzlicher Verlust.
Aber so ist die Zeit, sie hinterlässt nur Opfer.
Le Moléson – Freiburgs Hausberg
Die mächtige Kuppe des Molésons kommt Schritt für Schritt näher, irgendwie bedrohlich in seiner Schroffheit, seiner Schwärze, seiner offenkundigen Ablehnung jeglichen Besuchs von ausserhalb. Oder scheint es nur so?
In Plan Francey findet sich die Talstation der Luftseilbahn auf den Moléson, ein weiterer Höhepunkt, den ich durch den engen Zeitplan verpasse. Die Aussicht allerdings dürfte an diesem nebligen Tag eher bescheiden sein, also verpasse ich nichts. Aber das muss irgendwann nachgeholt werden.
Aber immerhin gibt es ein riesiges Restaurant, wo ich einen Kaffee trinke und tatsächlich unser Luzerner Ehepaar erblicke. Ich habe kaum Zeit, sie zu begrüssen, denn ein Border Collie hat Gefallen an meinen unermüdlichen Streicheleinheiten gefunden.
Fort mit dem Denken
Manchmal, viel zu selten, setzt mein Denken aus, obwohl rechts und linkst des Weges soviel zu sehen, zu hören, zu riechen ist. Das sind die Höhepunkte des Wanderns, wenn man ganz bei sich ist, in vollständiger Balance.
Vielleicht haben die zahlreichen Meditationskurse doch ihre Wirkung getan.
Ich erinnere mich an den ersten Vipassana-Kurs nach der U Ba Khin Tradition im Jahr 2003, vor allem an die unerträglichen Schmerzen beim Sitzen in der ungewohnten Stellung (ich spüre heute noch, nach beinahe 20 Jahren, meinen Rücken, meine Beine, meine Schultern … Und die Gedanken, weit weg zu rennen).
Die endlos scheinende Stunde, das Zählen der letzten Minuten, umgerechnet in Sekunden, nur noch 300, nur noch 250, nur noch 100 … Und dann endlich der Gesang von Mutter Sayamagyi, die jeweils das Ende einer Stunde einläutete.
Die komplizierten Strukturen des Buddhismus, der achtfache Weg und alles andere, anfänglich unverständlich, bis es nach einiger Zeit endlich seine Wirkung entfaltete.
Das edle Schweigen, für uns Dauerquatscher eine beinahe unerträgliche Pein – 10 Tage ohne Sprechen, ohne Medien, ohne Musik, ohne Bücher, ohne Kontakte, ohne alles – bis am neunten Tag das Schweigen gebrochen wird, und alles aus einem herausbricht. Alles Aufgestaute, alles nur nonverbal Kommunizierte, alle Gedanken, die während den endlosen Stunden das Gehirn verstopften, alles musste raus, sofort.
Und das Wichtigste – plötzlich spürte man, dass zwar keine Lichtphänomene aufgetaucht waren (wie sie sehnlichst erwartet worden waren), aber die innere Batterie aufgeladen worden war, als wäre man innerlich um Jahre verjüngt worden.
Und eben – die Achtsamkeit, eines der zentralen Themen im Buddhismus, erweckt und aktiviert auf dem Weg nach Les Paccots. Mehr kann man nicht erwarten …
Noch weit weg – der Genfersee
Der Moléson verschwindet in seinem selbst gewählten Nebelkostüm, er wirft mir noch einige schwarze drohende Blicke hinterher, stört mich aber nicht, denn nun geht es langsam bergabwärts.
Die Natur verändert sich, wird flacher, zumindest manchmal, winzige Bäche sprudeln durch sumpfartige Wiesen, bedeckt mit kniehohem Gewächs, das ich wieder mal nicht identifizieren kann.
Dann doch eine erste unerwartete Überraschung (ich weiss, ein Pleonasmus) – weit weit weg, so scheint es, ist doch tatsächlich ein hellblauer Streifen zu erkennen, der erste Gruss des Lac Léman. Oder will man mich täuschen? Etwas vorgaukeln, was nicht da ist, nur in meiner Phantasie?
Und trotzdem, es scheint, dass ich meinem Ziel näherkomme. In einer Woche bin ich in Genf. Leise schleicht sich Wehmut ein.
Aber vorläufig bin ich noch weit weg vom Genfersee, sogar noch ziemlich weit weg von Les Paccots, dem heutigen Tagesziel.
Der Weg führt manchmal mühsam der Teerstrasse entlang, dann wieder mitten durch den Wald und einmal sogar entlang einer Finnenbahn. Ich habe irgendwo gelesen, dass Les Paccots ein wahres Paradies für Sportler sein muss. Es würde mich nicht wundern, schon bald über einen Jogger zu stolpern (oder eher er über mich). Es muss also so sein, dass ich mich langsam der Zivilisation nähere.
Les Paccots – nicht meine Welt
Nichts kann mich noch erschüttern, auch nicht der drohende Regen, der wie ein Damoklesschwert über der zerzausten Landschaft hängt. Irgendwann stehe ich zwar vor der Ortstafel von Les Paccots, aber wie sich zeigen wird, heisst das nicht viel bei diesem langgezogenen Dorf, das sich über endlose Kilometer hinzuziehen scheint.
Aber Geduld bringt Rosen, wie man so schön sagt, und tatsächlich taucht Au petit Gîte auf, ein kleines Hotel weit weg vom Zentrum, wie ich schmerzlich erfahren werde. Das Zimmer besitzt aber seinen eigenen hölzernen Charme, obwohl die Dame des Hauses einen etwas abweisenden Eindruck macht.
Ist mir aber ziemlich egal, es ist spät geworden, ich habe über acht Stunden gebraucht (Kaffee und Hundestreicheln inklusive), und ich möchte unbedingt etwas essen. Allerdings steht die Absicht wieder mal in vollständigem Kontrast zur Wirklichkeit, denn ein Restaurant zu finden ist offenbar ein aussichtsloses Unterfangen.
Mit schmerzenden Füssen und Beinen stolpere ich der endlos scheinenden Strasse entlang, immer in der Hoffnung, irgendwann irgendwo das Zentrum zu finden, wo wunderbare Restaurants darauf warten, mich verköstigen zu dürfen.
Aber eben, es gibt zwar Coiffeursalons und seltsame Shops, die den ganzen Ramsch anbieten, wir er nur in Touristenhochburgen angeboten wird, es gibt sogar Hotels, die allerdings geschlossen sind. Am Schluss, ziemlich entnervt und verärgert, lande ich doch tatsächlich in einem Fastfood Restaurant und lasse mir einen Cheeseburger mit Frittes munden. Immerhin läuft im Hintergrund ein Fussballspiel der EM, was mich zumindest teilweise etwas besänftigt …
Song zu Thema: UNKLE – Set no Sun
Und hier geht der Weg weiter … nach Vevey am Genfersee