Also dann, nach dem kurzen Unterbruch geht die Reise weiter. Ich bin schon früh unterwegs, und treffe kurz vor halb zehn in Meierskappel ein, und sage hallo zum ersten 3-er Wegweiser. Ich komme mir vor, als träfe ich einen alten Freund.
Der Weg, wie beim gestrigen Unterbruch erklärt, ist um ca. 10 Kilometer kürzer, also wartet auf mich ein grossartiger Tag bei wiederum besten Wetter.
Und hier die geänderten Daten:
Länge: ca. 20 km, Aufstieg | Abstieg: 760 m | 740 m, Wanderzeit: zwischen 6 und 7 Stunden
Der blaueste Himmel aller Zeiten
Es geht so weiter, wie ich vorgestern aufgehört habe – mit blauem Himmel und angenehmen Temperaturen. Meierskappel ist mir, wie viele andere Dörfer auf dem Weg, völlig unbekannt. Offenbar hat es Bestrebungen gegeben, zum nahen Kanton Zug zu wechseln. Man rate warum. Natürlich wegen den viel tieferen Steuern.
Der Weg geht kurz nach der Bushaltestelle ins Grüne, hinauf auf den langen Hügelzug, entlang blühender Wiesen und Gärten. Das Tal bleibt unter mir zurück, irgendwo da unten befindet sich Kollers Hoftreff im Feissenacher. Das wäre eine weitere Übernachtung auf einem Bauernhof gewesen, nicht im Stroh wie in Hinterwiden. Das bereue ich etwas, allerdings hätte ich anstatt auf diesen grossartigen Hügeln die Strasse nach Udligenswil nehmen müssen.
Alles gut.
St. Michaelskreuz und -Kapelle
Einer der zu kreuzenden Bauernhöfe hat offenbar genug gehabt von all den Wanderern und Bikern, denn die Strecke führte ursprünglich beinahe durch die Küche des Anwesens. Jetzt geht der Weg in achtungsvoller Distanz am Hof vorbei und steigt dann eine steile Wiese hinauf. Um die Anstrengung etwas zu mildern, hat der Bauer – vielleicht mit schlechtem Gewissen – eine Art Finnenbahn mit Holzschnitzeln angelegt. Allerdings macht das den Weg kein bisschen weniger steil. Mein wiederum schwerer Rucksack macht sich heute Morgen nicht zum ersten Mal bemerkbar, und ich schnaufe oben an der Strasse wie ein löchriger Blasbalg.
Ein Biker erklimmt, man kann es nicht anders sagen, den Abhang noch ein bisschen schnaufender als ich. Er ist nicht mehr der jüngste, und sein Gesicht hat eine ungesunde rote Farbe angenommen. „Geht’s?“ frage ich boshaft und kann ein Grinsen nicht verbergen. Ein kleines bisschen Rache an all den Bikern, die uns Wanderer immer mal wieder nerven. Der Biker, nachdem er sich erholt hat, entpuppt sich als sehr angenehmer Gesprächspartner, wir sind uns einig, dass solche Tage, trotz Finnenbahn, ein Geschenk sind.
Kurz danach geht es dann dem topographischen Höhepunkt des Tages entgegen, dem St. Michaelskreuz mit den zugehörigen Kapelle (oder umgekehrt). Und jetzt sind sie plötzlich alle da, die Biker und Wanderer (oder bin ich trotzdem der einzige?) von allen Seiten heranradelnd und wandernd, alle offenbar mit dem Ziel St. Michael.
Es ist verständlich, denn die Aussicht auf das darunter liegende Zugerland und den Zuger- und Vierwaldstättersee ist atemberaubend. Wir befinden uns auf knapp 800 Meter, aber man kriegt den Eindruck, viel höher zu sein. Kein Wunder zählt diese Kapelle zu den beliebtesten Hochzeitsorten. Was kann noch passieren, wenn der Bund der Ehe an solch einmaliger Aussicht geschlossen werden kann? Na ja, lassen wir das …
Ein paar Biker machen das Gleiche wie ich, bewundern die Aussicht, photographieren, nehmen einen Schluck Wasser und gehen oder fahren weiter, dem nächsten Abhang, der nächsten Kurve entgegen. Aber dahinter, weit weg am Horizont, grüssen die weiss verschneiten Berge, wie eine krönende Umrandung des Bildes.
Märchenland
Wenn ich irgendjemandem einen Abschnitt empfehlen müsste, wäre es bestimmt diese Etappe. Ich muss es immer wieder sagen – der langsame Gang durch diese Wiesen und Felder hat nicht mehr viel mit Wandern zu tun, es ist eine Art traumhaftes Schweben, man fühlt sich leicht, schwerelos. Das erinnert mich an etwas. Ich zitiere ausnahmsweise aus „Eine Schlange in der Dunkelheit“:
Etwas Leichtes lag in der Luft, etwas Schwebendes, Schwereloses. Es schien, als hätte die Stadt an diesem Tag ihr schönstes Antlitz aufgesetzt. Im Licht, das in verschwenderischer Fülle aus dem Himmel strömte, schimmerte sie wie ein Juwel inmitten der Einöde.
Genauso kommt es mir heute vor.
Vancouver 8323 Kilometer
Der heutige Weg ist nicht nur auf seine Weise grossartig, es kommt mir vor, als hätte die ganze Welt ein anderes Gesicht aufgesetzt. Vor einem Bauernhof – von denen es viele gibt, einige ganz besonders schöne Beispiele – steht ein nicht alltäglicher Wegweiser. Einer, den ich am wenigsten erwartet habe. Vor allem hier.
Die Richtungsweiser deuten auf Kerzers, 144 km, nicht allzu weit, oder Rom, 828 km, schon etwas weiter vom Schuss, dann Berlin, 903 km, und eben Vancouver, 8323 km. Vor allem aber weisen sie auf den Bönihof, der sozusagen um die Ecke liegt.
Ein Bauernhof mit Fernweh?
The Sound of Switzerland
Etwas weiter oben, eine Herde Kühe, so wie es sein muss – friedlich käuend, grasend, muhend. Die Kuhglocken, vielleicht das treffendste Geräusch, das die Schweiz ausmacht. Da kommt mir doch gleich eine weitere Textpassage in den Sinn, Autor unbekannt:
Inmitten der erschöpften Passagiere, denen der anstrengende Flug in den Gesichtern geschrieben stand, starrte sie schweigend auf den Boden, als plötzlich Kuhglockengebimmel und mehrstimmiges Muhen aus den Lautsprechern erklang. Zu ihrer Überraschung merkte sie plötzlich, dass sie sich freute heimzukommen, in das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen war, aber auch das Land, dessen Enge sie immer wieder entflohen war. Das war ihr noch nie vorher passiert.
Offenbar gingen ihre Wurzeln tiefer, als sie bisher angenommen hatte.
Manchmal geht es tief in den Wald hinein, Hobbit-Land. Man wäre nicht überrascht, wenn plötzlich Bilbo oder Frodo oder Sam und Pippin hinter den Bäumen hervortreten würden.
Oder sind es Orks, die hinter den Gebüschen lauern, Uruk-Hai, vom bösen Zauberer Saruman gezüchtet? Aber nein, da sind Wegweiser, kaum bekannt in Mittelerde, und ein Biker, der ganz und gar nicht aussieht wie ein Ork.
Vielleicht gehört ja auch Hühnergegacker zum Sound of Switzerland. Einige haben sich in den Schatten geflüchtet, die Hitze steht nun senkrecht in der Luft.
Es wird gebauert und zugeschnappt
Klar, dass die Bauern das schöne Wetter dazu benutzen, ihre Wiesen zu mähen (endlich), das trockene Heu einzusammeln, für den Winter vorzusorgen. Man könnte ihnen ewig zusehen, wie sie ratternd und dröhnend auf ihren Traktoren mit angehängtem Heuwender ihre Wege abfahren.
Vor hundert Jahren hätte es nicht viel anders ausgesehen. Anstelle des Traktors vielleicht ein Pferdefuhrwerk, anstelle des Heuwenders viele emsige Arme und Hände.
Und die Bauernhöfe, nicht alle, aber die meisten, entsprechen bereits der Luzerner Architektur. Anders als in Appenzell, anders als sie im Emmental aussehen werden.
Eine alte Frau beugt sich über ihren Gemüsegarten, da muss man stehen bleiben, ein paar Worte wechseln, ganz banal, übers Wetter, die Ernte, das Gemüse. Mehr braucht es nicht.
Der Hofhund allerdings, natürlich ein hinterhältiger Appenzeller, findet meine ausgestreckte Hand, um wie immer einen freundlichen Kontakt herzustellen, überhaupt nicht lustig und schnappt zu. Ich habe Glück, seine Zähne streifen meine Hand bloss, aber ich bin doch etwas irritiert, werde ich als alter Hundefreund doch meistens sehr begeistert begrüsst.
Na ja, jeder kann mal einen schlechten Tag haben …
Udligenswil – Adligenswil
Keine Ahnung, wer diese seltsamen Ortsnamen, die sich lediglich um den Anfangsvokal unterscheiden, erfunden hat. Eines der ewigen Mysterien des Universums.
Auf jeden Fall weist der Weg etwas später quer durch Udligenswil, wie der Fast-Namensvetter weiter westlich ein Wurmvorsatz der Agglomeration Luzern. Man lebt auf dem Land und gleichzeitig in der Stadt. Na ja, ist ja in meinem Limmattal nicht viel anders.
Auf jeden Fall beeile ich mich, der zubetonierten Umgebung möglichst schnell wieder zu entfliehen, das Ziel Luzern ist nicht mehr weit.
Luzern
Es gilt zwar noch, ein paar Kilometer einem Golfplatz entlang zu gehen, aber dann liegt der See unter mir. Die Stadt nimmt mich in Empfang, mit Lärm und Hektik, ich muss mich erst wieder an Lichtsignale und Kinderwagen gewöhnen.
Der Weg auf dem Uferweg in Richtung des Zentrums ist die Krönung der heutigen Tour. Ich gehe langsam, wie immer, wenn ich erstens müde bin und meine Beine schmerzen, vor allem aber auch, weil ich es geniessen will.
Abendessen in der Stadt
Ich bin mit einem alten Freund zum Abendessen verabredet. Man sieht sich ja durch diese blöde Pandemie nur noch selten, also muss man die Gelegenheit beim Schopf packen, wenn man zufälligerweise hier ist. Ob ich allerdings nochmals zu Fuss in Luzern ankomme, ist äusserst zweifelhaft.
Anyway, es gibt wie immer viel zu schwatzen. Der Abend ist warm, so wie er sein müsste, aber dieses Jahr ist offenbar vieles anders als sonst. Geniessen wir es, solange es dauert …
Song zum Thema: AC/DC – Hells Bells (anstelle von Cow Bells)
Und hier geht der Trip weiter … nach Malters