Jedes Haus, jedes Zimmer hat seine Geschichten.
Tieftraurige, wehmütige, herzzerreissende, aber auch wunderbare, herzerfüllende Geschichten. Geschichten von Glück und Verlust. Von Verrat und Freundschaft. Sie sind unsere Zeugen. Es gehört zu unserer Welt und unserem Leben, dass Yin und Yang immer wirken, dass Leben und Tod immer zusammengehören. Das ist der einzige Trost, den ich den beiden unglücklichen Jugendlichen geben kann. Und mir selbst. Und deswegen schlafe ich trotz der seltsamen und unglücklichen Vergangenheit meines Zimmers gut und fest.
Beim Morgenessen Gespräch mit einem englischen Paar, James und Suzie. Er ist Reiseschriftsteller (aber später stellt sich heraus, dass er noch viel mehr ist; seine Vita ist beeindruckend, aber davon später mehr). Auf jeden Fall entschliessen wir uns, zusammen mit James Ruddy, so heisst der Mann, ins nächste Dorf zu wandern. Reto möchte einen alten Bekannten aufsuchen, einen Herrn Wong.
Wie sich zeigen wird, ist Herr Wong schwierig zu finden.
Alles verändert sich
Um halb elf geht’s los, die Häuser fallen hinter uns zurück. Es ist (noch) ein gutes Dorf, dieses Muang Ngoi, aber wie lange noch? Es verändert sich mit rasender Geschwindigkeit, wie alles, das auf dem Radar der touristischen Weltgemeinde auftaucht. Allein heute Morgen sind ein paar schöne alte Palmen gefällt worden, um Platz für ein weiteres Guesthouse oder eine Spelunke zu machen, die dann mangels Erfolg über kurz oder lang zerfällt. Oder auch nicht. Der Lauf der Welt, wie immer auch ein düsteres Kapitel …
Ich wage nicht mir vorzustellen, wie es hier in ein paar Jahren aussehen wird.
Summende Stille zwischen den Bäumen
Wir machen uns also auf den Weg ins abgelegene Dorf, er ist angenehm, meistens flach, an sprudelnden Bächen und weidenden Kühen und Wasserbüffeln vorbei. An einem solchen Tag gibt es eigentlich nichts Schöneres als einen gemütlichen Spaziergang, ganz ohne Hast, dafür mit viel entspannter Ruhe.
Wir treffen ein paar Kinder auf dem Weg zur Schule, sonst sind wir allein mit dem Vogelgezwitscher, mit dem Wind in den Bäumen, der Sonne auf dem Gesicht.
Manchmal führt der schmale ausgetretene Pfad durch Alleen durch, Äste schwingen herab und manchmal ins Gesicht, eine summende Stille zwischen den Bäumen, die wie aufrechte Soldaten gegen den Himmel schauen. Gelegentlich gilt es einen Bach zu durchqueren, barfuss mit Vorteil, denn das Wasser ist teilweise recht tief und wunderbar kühlend. Schuhe aus, waten, Schuhe an.
James
James ist klug, belesen, sehr sympathisch und höflich, wie man sich einen Engländer vorstellt. Er ist aus dem Arbeitstrott ausgeschieden und verdient sich nun seinen Lebensunterhalt mit dem, was er am liebsten macht: Reisen. Er ist auch schon sechs Monate unterwegs und schreibt ein neues Buch für Reisende über 50 mit dem Arbeitstitel „Born to be mild“.
Ganz bescheiden, wie er ist, verweist er auf ein anderes seiner Bücher: „The Kindness of a Stranger„. Er beschreibt darin seine Aufenthalte in Kriegsgebieten, die Gräuel, das menschliche Leid, die Perspektivlosigkeit der Welt.
Eine vergangene Welt
Dann endlich das Dorf. Das Gefühl, im Mittelalter oder einer längst vergangenen Welt angekommen zu sein.
Ein paar da und dort herumliegende Plastikflaschen stören das Bild, doch die Holzhäuser auf Stelzen, die gackernden Hühner auf den unbefstigten Gassen zwischen den Hütten, die schwach rauchenden Feuerstellen, die lärmenden Kinder, alles deutet auf etwas hin, das in unserer westlichen Welt längst vergessen ist: Ruhe, Frieden und Harmonie.
Auch wenn sie trügerisch ist …
Während Reto sich auf die Suche nach Mister Wong macht (der sich als Phantom entpuppt, auf jeden Fall ist er unauffindbar), lassen James und ich uns auf der Terrasse des einzigen Restaurants nieder, bestellen Suppe, Bier und was sonst noch alles dazugehört.
Lachendes Elend
Der Wirt ist ein seltenes Unikum: klein, rundlich, ein verschmitztes Lachen im Gesicht. Sein Englisch würde jeden Comedypreis erhalten, aber wir erfahren trotzdem so einiges über das Dorf, über diese kleine, dem Untergang geweihte Welt.
Er ist nicht nur Restaurantbesitzer, sondern hätte auch ein paar Bungalows zu vermieten, Kostenpunkt 5000 Kips pro Nacht. Das sind umgerechnet gut 70 Rappen! Meine Güte! Ob sie unseren ziemlich niedrigen Standards genügen würden, ist eine andere Frage. Wohl eher nicht.
Es dauert allerdings nicht lange, bis ein paar junge Travellers dem Angebot nicht widerstehen können und die Zimmer beziehen.
Nach ein paar Bieren und Schnaps wird die Stimmung immer besser, das Lachen lauter. Am lautesten lacht der Wirt; wir wälzen uns beinahe am Boden, obwohl wir eigentlich nicht wissen, warum. Während er lacht, erzählt er traurige Geschichten, von seiner Frau, die einen Unfall hatte, in Luang Prabang und Vientiane behandelt wurde, bis ihm das Geld ausgegangen ist. Nun ist sie wieder zuhause, aber es geht immer noch nicht gut.
Das Lachen bleibt im Hals stecken …
In einem anderen Leben, einem anderen Ort auf der Welt, wären seine Probleme gelöst. Krankenkasse, Behandlung, Geld – alltägliche Sicherheiten unseres bevorzugten Lebens. Wieder einmal wird man daran erinnert, welche Lotterie das Leben doch ist. Wir im Westen haben den Topgewinn mit Zusatzzahl, während diese ungemein freundlichen Menschen hier ein ganz schlechtes Los gezogen haben. Man lacht und ist gleichzeitig unendlich traurig …
Es ist eine dieser Geschichten, die hängen bleiben, wie viele andere.
Irgendwann machen wir uns trotz angenehmer Gesellschaft auf den Rückweg, die Sonne steht bereits am Horizont, wir schaffen es aber eben noch vor Einbruch der Dunkelheit. Meine Zehe macht mir etwas Sorgen. Falls es sich zu einer Blutvergiftung entwickeln sollte, habe ich ein Problem. Aber so weit sind wir noch nicht.
Dann der letzte Abend in Muang Ngoi, ich werde eine wehmütiges Gefühl mitnehmen, nicht nur des Dorfes, sondern auch der Gesellschaft der neu gewonnenen Freunde wegen, die ich nun wahrscheinlich wieder einmal für immer verlassen muss.
PS Song zum Thema: Lynyrd Skynyrd – Searching
Und hier geht’s weiter … Zum zweiten Teil der Nam Ou Flussfahrt